Im Fokus
von 03.05.2008 bis 03.08.2008

Jiří Kolář. Tagebuch 1968

Sammlungspräsentation

Jiří Kolář. Tagebuch 1968

Von ihren kubistischen Anfängen an ist die Durchlässigkeit für die Realität außerhalb des Kunstwerks eine der hervorstechenden Eigenschaften der Collage. Gerade in Zeiten von Auf- und Umbrüchen, von Krisen und Katastrophen erweist sie sich daher als geeignetes Medium zur Aufzeichnung der Erschütterungen. Der dadaistische Protest gegen den Irrsinn des Ersten Weltkrieges oder die revolutionären Utopien der Konstruktivisten bedeuteten Sternstunden dieser Technik. Wie kaum eine andere künstlerische Ausdrucksform ist die Collage in der Lage, das verwirrend Gleichzeitige und Widersprüchliche besonderer historischer Momente zu fassen. 1968 war so ein Jahr, vor allem in Prag, das damals einen Frühling erlebte, der erst im August endete, als sowjetische Panzer über den Wenzelsplatz rollten. „Die Erinnerung an das Jahr 1968 kann (...) nur eine Form annehmen: die der Collage", schrieb Hans Magnus Enzensberger und hatte dabei die Collagen Jiří Kolářs (1914 – 2002) vor Augen, der mit seinem Tagebuch 1968 die Chronik eines Jahres schuf, das die Welt in Atem hielt. Zum ersten Mal zeigt das Neue Museum ab 17. Januar diese Blätter, die zu seinen größten Schätzen zählen. 2008 wird es vor genau vierzig Jahren gewesen sein, dass Alexander Dubčeks Versuch, einen „Sozialismus mit menschlichem Antlitz" zu schaffen, scheiterte.

Das Tagebuch als Seismograph

Kolářs Tagebuch, das eigentlich ein Wochenbuch ist, funktioniert wie ein Seismograph, der im August heftig ausschlägt: Statt wöchentlich nur einer Collage entstanden in den Augustwochen bis zu sechs Blätter pro Woche. Die insgesamt 66 Blätter sind nicht nur eine Chronik des Prager Frühlings. Sie entfalten ein großes historisches Panorama, handeln unter anderem vom Vietnamkrieg, von der erfolgreichen Mission des US-Raumschiffs Apollo 7 oder von den Olympischen Spielen in Mexiko mit der amerikanischen 4x400-Meter-Staffel, die bei der Siegerehrung mit dem Black-Power-Gruß provozierte. Die Ermordung Robert Kennedys sowie der Tod der Künstler Antonín Tomalík, Jiří Balcar, Lucio Fontana, Marcel Duchamp und Vladimír Boudník bewegten Kolář so sehr, dass er ihnen Erinnerungsblätter widmete. Auch sehr Privates wie die Trennung von seiner Frau Běla Kolářová wurde zum Bildthema. Und immer wieder – selbst in den aufwühlenden Augustwochen – reflektierte Kolář die Kunstgeschichte: vom Isenheimer-Altar über Ingres bis zum Zöllner Rousseau, René Magritte, Yves Klein und Robert Indiana. Mit der Teilnahme an der documenta in Kassel und einer Einzelausstellung im Institut für moderne Kunst in Nürnberg bedeutete 1968 für Kolář auch ein Jahr künstlerischen Erfolgs. Die so widersprüchlichen Ereignisse des Jahres 1968 in Collagen verwandelt zu haben, die in vierzig Jahren nichts an Eindringlichkeit eingebüßt haben, markiert einen Höhepunkt in Jiří Kolářs Schaffen.