Im Fokus
von 01.10.2013 bis 02.02.2014

Auf den zweiten Blick. Kubus und Keimling

Sammlungspräsentation

Auf den zweiten Blick
Kubus und Keimling

Funktionsräume – nicht auf den ersten Blick zu vermuten: eine Königsdisziplin des Designs. Im Gegensatz zu Repräsentativräumen, Wohnräumen gilt es hier, die Bedürfnisse der Benutzer möglichst unaufwendig, aber punktgenau zu erfüllen. Dies lässt sich bei der Gestaltung von Küchen wie im Sanitärbereich seit den 1920er Jahren an zahlreichen Beispielen namhafter Entwerfer beobachten.

Allerdings ist die Auffassung, was ein Funktions- und was ein repräsentativer Raum ist, stark dem gesellschaftlichen Wandel unterworfen, wie gerade heute bei Erlebnisküchen und Wellness-Bädern à la Philippe Starck zu sehen. Um 1900 und noch bis in die Weimarer Zeit besaß das Bad des Großbürgertums einen zwar intimen, aber dennoch repräsentativen Charakter mit wertvollen Materialien wie Marmor, goldglänzenden Messingarmaturen und Porzellangriffen nach englischem Vorbild. Dies wandelte sich erst mit dem Neuen Bauen nach dem Ersten Weltkrieg.

Unsere beiden Exponate stehen paradigmatisch für den erneuten Umbruch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Transsibirische Eisenbahn, Luxusliner des Norddeutschen Lloyd oder die damals jüngsten Transpazifikflugzeuge und ihre Nasszellen auf kleinstem Raum waren die Vorbilder, an denen sich der Münchner
Architekt Werner Wirsing (geb. 1919) beim Entwurf seiner Duscheinheit Nizza orientierte. Sie war in jene 800 Bungalows eingebaut, die während der Olympischen Spiele 1972 in München als Unterkünfte der Athletinnen dienten. Wirsing – Dozent an der Hochschule für Gestaltung in Ulm wie Otl Aicher und Max Bill – gilt als Pionier des industrialisierten, sozialen Bauens, der die konzeptionellen wie ethischen Grundsätze der Nachkriegsmoderne in eine aktuelle Architektursprache übersetzt.

1,82 m² reichten aus für Waschbecken, Dusche, WC und Heizung. Kunststoff als Material der Zeit erlaubte eine Fertigung der Kabinen wie »aus einem Guss« – und besaß die nötige Leichtigkeit für den Transport und Einbau. In zwei bis drei Stunden war das Kleinstbadezimmer montiert. Weiß – seit der ersten bemannten Mondlandung 1969 die Farbe der Raumfahrt – bot individuelle Gestaltungsmöglichkeiten für die Olympioniken aus aller Welt. Offen, demokratisch, fröhlich und friedlich präsentierte sich Deutschland der Weltöffentlichkeit, sei es im öffentlichen Raum mit den schwingenden Zeltdächern des Olympiastadions von Günter Behnisch und Frei Otto, sei es im Innenraum – dem Badezimmer für die Sportlerinnen.

Merdolino oder liebevoll übersetzt »kleines Scheißerchen« – eine WC-Bürste, die sich nicht in die Ecke drängen lässt, sondern auffallen will. Der freche Entwurf stammt von dem italienischen Industriedesigner Stefano Giovannoni (geb. 1954). Merdolino gehörte 1993 zu den ersten Kunststoffprodukten des, traditionell aus der Metallfertigung kommenden Unternehmens Alessi, das seit den 70er Jahren durch Alberto Alessi und seinen Art Director Alessandro Mendini zur weltweit agierenden »Ideenfabrik« umgewandelt wurde. Mendini war Mitbegründer der renommierten Domus Academy in Mailand, einer der ersten Designschulen weltweit, an die Giovannoni später als Dozent in seinem Spezialgebiet Kunststoff berufen wurde.

Beeinflusst durch das »Radical Design« der 60er und 70er Jahre, bedient sich Giovannoni der Gestaltungsprinzipien der Pop Art: Dimensionsverschiebungen und leuchtende Farbigkeit gehören zu den Charakteristika seiner Entwürfe. »He works in direct contact with our emotions and instincts ... I'm convinced that all his items smile at us« (Alberto Alessi).

So sprießt »Merdolino« als überdimensionierter Keimling aus einem Blumentopf. An den Keimblättern, ergonomisch als Griff geformt, zieht der Benutzer die Bürste aus dem Topf und entdeckt die geschickt versteckte Funktion.

Kooperation

Eine Kooperation des Neuen Museums in Nürnberg und der Neuen Sammlung – The International Design Museum Munich