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Die sechziger Jahre: Happy Days

So happy waren die Sechziger beileibe nicht, wie es der Titel einer Papierarbeit von Karl Horst Hödicke glauben lassen könnte. Kuba-Krise und Kennedy-Attentat, Mauerbau, Spiegel-Affäre, Große Koalition und Außerparlamentarische Opposition, Vietnam-Krieg, Prager Frühling und die Hungernden in Biafra müssen als Stichworte genügen.

Die Erschütterungen erreichen auch die Kunst. Eine neue Suche nach Realitätsnähe verbindet die gezeigten Werke. Statt in die heile Welt der Ungegenständlichkeit zu flüchten, stellen sich die versammelten Künstler einer Welt am Rande des Abgrunds. Gewalt und Schmerz werden in Lambert Maria Wintersberger Gemälde durch die ornamentale Form und den Schmelz der Farben kaum gemildert. Hans Salentin montiert aus industriellen Metallteilen ein Hinrichtungsinstrument, das das Grauen der Todesstrafe in technischer Nacktheit versinnbildlicht. Die martialische Stele von Horst Egon Kalinowski, sein Samourai, wappnet sich mit Leder und Nieten vor den Gefahren einer aus den Fugen geratenen Welt.

In der Décollage finden sowohl Wolf Vostell als auch Karl Horst Hödicke eine Technik, die ebenso viel kritisches wie schöpferisches Potential besitzt. Durch Abreißen von übereinander geklebten Papierschichten wird der schöne Schein der kapitalistischen Waren- und Medienwelt hinterfragt. Die Hommage à Henkel von Wolf Vostell aus dem denkwürdigen Jahr 1968 bietet in unzähligen Bild- und Textfragmenten eine Mischung aus den Versprechungen der Werbung und den Geschichten der Boulevardpresse von Thronfolgern oder tragischen Todesfällen. Am unteren Rand finden sich Aufnahmen vom Autounfall, bei dem das Sex-Symbol Jayne Mansfield 1967 starb.
Die Décollage führt Vostell zum Happening – Kunstaktionen mit Beteiligung des Publikums. Zwei seiner Happening-Partituren illustrieren das neue Konzept einer Kunst, die aus dem sprichwörtlichen Elfenbeinturm ausbricht um sich ins Leben einzumischen. Kunst wird politisch.

Die sechziger Jahre: Flesh

Achtung, diese Kunst könnte Ihr sittliches Empfinden verletzen! Der Wiener Aktionismus will anstößig sein. Die Künstler Günter Brus und Rudolf Schwarzkogler suchen das Leben – nach einem Wort des Dichters Antonin Artaud – dort, „wo es nach Scheiße riecht". Die Bürgerschreck-Künstler setzen auf den heilsamen Schrecken. Ihre Utopie richtet sich auf die Totalität des Lebens, jenseits von Kultur, Verdräng¬ung und Entfremdung.
In Materialaktionen mit oft sado-masochistischem Charakter verfließen die Grenzen zwischen Psyche und Körper, Ich und Außenwelt, Bewusstem und Unbewusstem. Sexualität, Aggressionen und Ängste werden freigelegt und bilden die Triebkräfte symbolischer Handlungen am und mit dem Körper. Dabei stoßen die Künstler an die Grenzen. Auch die der Ich-Identität. Die schwarze, gezackte Linie, die Günter Brus' weiß bemalten Körper bei seinem Wiener Spaziergang auf Vorder- und Rückseite in zwei Hälften teilt, darf als Andeutung schizophrener Phänomene verstanden werden. Mit einer symbolisch vollzogenen Selbstkastration und anderen Verletzungen und Verstümmelungen stilisiert sich auch Rudolf Schwarzkogler zum Märtyrer.
Ungleich nüchterner, ohne jedes Erlöserpathos, formal strenger macht der amerikanische Künstler Bruce Nauman seinen Körper in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre zum künstlerischen Material skulpturaler Handlungen. In einer Reihe von Filmen erforscht er das Thema des sich Verbergens hinter einer Maske. Die lapidare Handlung birgt angesichts des Wechsels von Schwarz zu Weiß gesellschaftspolitischen Zündstoff: Wenige Monate bevor der Film entstand, fiel Martin Luther King einem Attentat zum Opfer.

In Form einer Höhenlinienkartierung zeigt sich der Konzeptkünstler Timm Ulrichs als „Kunstfigur", als lebendes Kunstwerk, das sogar „gesetzlich geschützt" ist. Und wo es um Körper geht, darf der Aspekt der Vergänglichkeit nicht fehlen. Dieter Roth bringt ihn ins Spiel, wenn er die Badenden auf einer Grafik seines Künstlerfreundes Richard Hamilton unter einer Schicht Kakaopulver verschwinden lässt.

Die sechziger Jahre: Sonnen

Ausgerechnet im dunkelsten Raum geht es um Licht! Sonnen heißt eines der vier gezeigten Werke, bei denen es um Licht und Bewegung geht. Diese lichtkinetische Kunst bildete in der Anfangszeit der Sammlung internationaler zeitgenössischer Kunst der Stadt Nürnberg, die sich heute im Neuen Museum befindet, einen Schwerpunkt. Dass nicht dauerhaft mehr von dieser Spezies Kunst präsentiert werden kann, hängt mit ihrer ‚Pannenstatistik' zusammen. Bei Dr. Roters' Pulsschlag von Hermann Borchers etwa dreht (hoffentlich noch lange) eine Heimwerker-Bohrmaschine die große Scheibe. Jener Dr. Roters war übrigens Mitarbeiter von Dietrich Mahlow, dem ersten Direktor der Kunsthalle Nürnberg Ende der sechziger Jahre.

Damals hatte Lichtkinetik Hochkonjunktur. Die Zukunftsgläubigkeit einer Zeit, in der Wissenschaft und Technik Triumphe feierten, Satelliten und bemannte Raumfahrzeuge den Erdball umkreisten, spiegelt sich darin. Lichtkinetische Kunst war das genaue Gegenteil der überkommenen Ausdrucksformen. Sie versprach reine und unmittelbare Erfahrung und baute auf den mündigen Betrachter.

Der argentinische Künstler Julio Le Parc war einer der international bedeutendsten Vertreter der Lichtkinetik. 1960 war er Mitbegründer der Pariser Groupe de Recherche d'Art Visuel. Er ist mit zwei Arbeiten vertreten.

Die siebziger Jahre: Analyse und Sensibilität

Spröde mag auf den ersten Blick erscheinen, was hier versammelt ist: Stille Kunst, die sich mit Fragen beschäftigt, die aus der Reflexion auf ihre eigenen Bedingungen und Möglichkeiten hervorgeht. Sicher nur ein Aspekt der Kunst der Siebziger, doch ein entscheidender.

In der Mitte des Raums eine Skulptur von Artur Dieter Trantenroth. Die hölzerne Umkleidung des Marmorriegels ist integraler Bestandteil des Kunstwerks. Sie bildet im geschlossenen Zustand das Volumen des Steins als Hohlkörper ab. Aufgeklappt greift sie als Flächenabwicklung in den Raum. Holz und Stein, Fläche und Volumen, das Raue und das Glatte – Trantenroths Skulptur will in solchen Gegensätzen erlebt werden.

An den Wänden Bilder: Darunter ein leuchtendes Bild aus farbigen Neonstäben und Glasplatten des Ameri¬kaners Keith Sonnier, dessen eigentümlicher Titel in der Sprache Haitis so viel wie „Farb- oder Lichtbad" bedeutet. Gegenüber wulstige Lippen: Der Maler Gotthard Graubner lässt hier dem plastischen Bildträger den Vortritt. Ebenso wie Jan Schoonhoven, der ein monochromes, weißes Bild in ein flaches Rasterrelief verwandelt, in dem sich das Licht fängt. Nebenan schafft der Maler Rolf-Gunter Dienst ein textil wirkendes, grünes All-Over, das von einem schwarzen Portal gerahmt ist.

Noch reduzierter tritt die Malerei in zwei Gemälden von Raimund Girke und Robert Ryman auf. Für solche Malerei wurde damals der Begriff ‚Analytische Malerei' geprägt: Bildträger, Bildfläche und Farbauftrag werden subtilsten Analysen unterzogen. Malerei kurz vor dem Nullpunkt – Sensibilität pur!

Die achtziger Jahre: Gefühl und Härte

Gefühl und Härte – der Titel einer Ausstellung mit Kunst aus Berlin von 1982 und der Titel einer Platte der deutschen Band Daily Terror von 1985. Unwillkürlich denkt man an die Neuen Wilden. Doch die Kunst der Achtziger hatte noch andere Facetten, für die das Etikett auch passt.

Zum Beispiel die inszenierte Fotografie, die hier durch Bernhard Prinz eindrucksvoll vertreten ist. Drei schöne Frauen mit Schüsseln. Sie erscheinen wie Heilige mit ihren Attributen oder Salome in Erwartung des Kopfes von Johannes. Der Titel löst diese erste Anmutung ein, indem er von Allegorien spricht, also vorzugsweise weibliche Verkörperungen abstrakter Gedanken, in diesem Fall von „Idee", „Ideal" und „Ideologie". Die platonische Idee als gläserne Schüssel? Die Ideologie als Verführerin in Gold? Eine Welt aus Zeichen tut sich auf, dahinter das pure Nichts – die Schüsseln sind leer.
Die Postmoderne begreift die Geschichte als einen unerschöpflichen Fundus von Zeichen, aus dem sich auch der Maler Wolfgang Sakowski bedient. Er widmet sein zweiteiliges Bild Howard Hughes, dem legendären amerikanischen Filmproduzenten und Flugpionier, dem zuletzt Martin Scorsese mit seinem Film The Aviator ein Denkmal setzte, und erklärt ihn im Titel zu einem modernen Ikarus. Tatsächlich hatte Hughes mehrere Flugzeugabstürze überlebt. In comicartiger Verkürzung gibt das grafisch anmutende Gemälde nur knappe Hinweise auf sein Thema.

Warenwelt und Konsum sind bevorzugte Themen der Künstlerin Katharina Fritsch. Ihr Wühltisch profaniert eine Darstellung des Heiligen Martin. Umgekehrt kommentiert der barmherzige Akt des Mantelteilens die unbarmherzige Welt des Kommerzes.

Georg Herold malt mit Kaviar, der Inkarnation von Luxus – doch auf einem Gemälde erschienen die kostbaren Fischeier wie eine Verunreinigung, wäre da nicht das Bild, das das verbotene Spiel mit Essen in ein kosmisches Drama von Turnerscher Wucht überführt. In solchen ironischen Brechungen waren die Achtziger groß!

Und sie liebten die Provokation, womit endlich auch Olaf Metzel genannt sei, dessen Brunnenentwurf für den Karl-Marx-Platz in Berlin-Neukölln jenem Platz gilt, auf dem Joseph Beuys 1972 den Müll eines
1.-Mai-Demonstrationszugs zusammenfegte. Die aus dieser Aktion entstandene Vitrine Ausfegen steht im Obergeschoss des Neuen Museums. Metzels Brunnenentwurf aus Straßenabfall ist eine Hommage an Beuys.